Wir beginnen das neue Schuljahr mit einigen grundsätzlichen Überlegungen in einer fünfteiligen Serie. Der nigerianische Autor und Nobelpreisträger Wole Soyinka geisselt Boko Haram. Er verbindet seinen Bericht über die
bedrohten Bildungsinstitutionen in seiner Heimat an der jährlichen Tagung der Nobelpreisträger in Lindau mit einem
leidenschaftlichen Plädoyer zur Verteidigung menschlicher Grundwerte. Erster Teil.
Ich wurde nach Lindau eingeladen, um über Bildung in Afrika zu
sprechen, und deshalb möchte ich Sie als Erstes zu einigen
Bildungsstätten führen. Fangen wir mit der exotischsten an – folgen Sie
mir bitte in die Wälder nahe meiner Heimatstadt Abeokuta. Wir entdecken
die Fährte eines Tiers, die uns überraschenderweise zum Rudiment einer
menschlichen Behausung führt. Das Dach ist über den windschiefen, innen
wie aussen völlig überwucherten Wänden eingebrochen, aber irgendwo
findet sich ein Durchschlupf, und – wer hätte das gedacht – wir stehen
auf einem zementierten, wenn auch arg mitgenommenen Boden, um uns grob
gefertigte Stühle, Bänke, Pulte und eine Wandtafel. An die Wand sind ein
paar Zeitungsausschnitte gepinnt, im Pult findet sich noch ein
Klassenbuch.
Keine Frage, das war einst ein Klassenzimmer. Einst?
Ein Blick auf die Zeitungsausschnitte macht klar, dass hier vor knapp
drei Wochen noch unterrichtet wurde. Natürlich. Es sind Ferien, die
Regenzeit ist angebrochen, und wo das himmlische Nass seinen Weg auch
durch löchrige Dächer, Fenster und Türen findet, wächst das Unkraut
schnell.
Gewiss, das ist ein
extremes Beispiel, aber für seine Wahrhaftigkeit stehe ich als
Augenzeuge ein. Ich bin gern im Wald unterwegs und stosse dabei immer
wieder auf solche verlassene Schulräume. Und in vielen Regionen Afrikas
nimmt ihre Zahl zu – besonders natürlich in Kriegsgebieten, aber auch in
solchen, die sich nicht in einem offenen Konflikt befinden, sondern
vielmehr doktrinären Ideologien unterworfen sind.
Wenden wir uns
lieber einem menschenwürdigeren Szenario zu, das ebenfalls gut vertreten
ist – Schulen, deren Angebot durchaus über der erwartbaren Norm liegt.
Ich meine Schulen mit Bibliotheken und Laboratorien, wo die Schüler
experimentieren und erfinden können. Ich meine Schulen wie diejenige im
westnigerianischen Staat Osun, die einen für schulische Bedürfnisse
massgeschneiderten Laptop entwickelt hat, der im ganzen Staat verbilligt
abgegeben wird. Das Gerät ist mit Daten aus dem nationalen und lokalen
Curriculum geladen, liefert aber auch zusätzliche Informationen mit
klarem Schwerpunkt auf afrikanischen Themen. So erdet das Gerät die
Schülerinnen und Schüler in ihrer eigenen Kultur und öffnet ihnen
gleichzeitig den Horizont der neuesten wissenschaftlichen und
technologischen Entwicklungen.
Und weiter zu unserem dritten
Schauplatz. Ein grösserer Kontrast zum ersten liesse sich kaum denken –
hier haben wir es mit einer Art Transplantat der Eliteschule Eton, mit
einem Exempel grotesker Entfremdungs-Psychologie zu tun. Auf
afrikanischem Boden ist dies eine exotische Welt: Krawatten, wollene
Blazer unter tropischer Sonne, eine Mini-Uno von Lehrkräften aus
England, Indien, Frankreich, Deutschland usw. Ein Cricket-Feld mitsamt
einem makellosen Pavillon für die elektronische Anzeigetafel. Rasen wie
vom Friseur geschnitten. Ein grosszügiger Swimmingpool. Und was erspähen
wir da in der Ferne? Tatsächlich: Reitpferde. Auch das gibt es – und
zwar ebenfalls in Abeokuta. Diese Eliteschulen sind natürlich privat,
und es ist ein offenes Geheimnis, dass manche von ihnen sich in der Hand
ebenjener einstigen Staatsoberhäupter befinden, die den anhand des
ersten Beispiels illustrierten Niedergang des nigerianischen Schulwesens
mitzuverantworten haben.
Es gibt noch ein weiteres Schulmodell –
eines, das in der deplorablen Entwicklung des Schulwesens mancherorts
ebenfalls eine Rolle gespielt und insbesondere die eingangs
geschilderten Zerfallserscheinungen befördert hat. Es ist dies die
Medresse – ursprünglich eine islamische Variante der Primarschule, die
weitgehend auf das Auswendiglernen setzt. Die Schüler lernen den Koran
aus dem Kopf zu rezitieren, sie studieren das Leben und die Tugenden
ihres Propheten Mohammed und seine in den Hadithen festgehaltenen
Aussprüche und Lehren; sie lernen, was laut diesen Lehren erlaubt und
was verboten ist und worin die jedem guten Muslim auferlegten Pflichten
bestehen.
Früh lernen die Schüler auch, dass dem Lehrer absoluter
Gehorsam geschuldet ist; dafür fühlen sie sich geborgen und beschützt.
Es besteht eine enge, für Aussenstehende nicht ohne weiteres
verständliche Beziehung zwischen Schüler und Lehrer; in einem Alter, da
das Kind noch gänzlich formbar ist, bilden die Lehren des Mullah seine
eine, existenzielle Wirklichkeit. Ich bin in der Nachbarschaft einer
solchen Schule aufgewachsen und erinnere mich, dass mich Neid beschlich,
wenn ich die Kinder im Chor antworten und rezitieren hörte: Es lag
etwas Einschläferndes, fast Hypnotisches in den Stimmen, die durch die
träge Nachmittagshitze herübertönten, und manchmal stimmte ich in den
Chor ein, ohne zu wissen, was die Worte und Phrasen überhaupt
bedeuteten.
Es muss an dieser Stelle erwähnt werden, dass diese
Medressen nicht mit Koranschulen gleichzusetzen sind. Ich ging auf eine
christliche Missionsschule, die auch von muslimischen Schülern besucht
wurde; diese hatten zwar am Abend oder am Wochenende zusätzlichen
Unterricht in der Koranschule, wo sie in religiösen Dingen unterwiesen
wurden, aber sie durchliefen ein normales schulisches Curriculum. Die
Schüler der Medressen hingegen verlassen diese Institution – ob das nun
beabsichtigt ist oder nicht – in einer Art geistiger Versklavung. Sie
haben nur eine äusserst limitierte Vorstellung davon, was Lernen, was
Bildung bedeutet. Sogar Erziehungsministerien in muslimischen Ländern
haben mittlerweile erkannt, dass ein Gutteil der Fusssoldaten und der
Bannerträger des radikalen Islamismus aus diesem Milieu stammt.
aus dem Englischen übersetzt von
as.