Montag, 29. Mai 2017

Von nichtswissenden Journalisten, hinterwäldlerischen Lehrern und Subventionen

Der Artikel über uns digitalen Hinterwäldler liess mich nicht in Ruhe. So schreibe ich auch diese Woche noch etwas dazu. Den Bock schiesst der Schreiberling aus dem Hause Tamedia, dank der Digitalisierung könnten wir nun endlich, endlich individualisieren und besser auf jeden einzelnen Schüler eingehen. Er hat wohl noch nie von Wochenplan, Projektunterricht, Werkstatt-Unterricht oder von Célestini Freinet gehört. Erste Reformer haben bereits 1870 getan, was nun mit Tabletts möglich wird?! Vergessen sind der Projektunterricht Zuberbühlers (1925), die Unternehmung im Freien der libertären École Ferrer (Wintsch 1919), die langen Lektionen des Gestaltungsunterrichts im Landerziehungsheim (Senn 1933), die individualisierenden Unterrichtsarrangements im Genfer pädagogischen Laboratorium (Dottrens 1936, Begert 1954) oder die Inneren Differenzierung der Klasse (Bovet 1925) und in der aktiven Schule (Ferrière 1923). Nein, liebe Tamedia AG, auch bevor wir Tabletts hatten, konnten die Kinder schon selbständig lernen und bereits in vordigitaler Zeit gingen wir an heissen Sommertagen in den Wald, nicht das e-Book, sondern das Buch unter dem Arm!

Der Bund müsse die Kantone bei diesem Prozess finanziell unterstützen. Toll, damit die Lehrer endlich lernen, das zu tun, was sie seit hundert Jahren tun? Hat der Bund die Kantone finanziell unterstützt, als die Schule von der Schiefertafel auf das neue Medium «Heft» umgestiegen ist? Oder gab es Subventionen, als der Diaprojektor durch einen Videoprojektor (Beamer) ersetzt wurde? Als das Epidiaskop durch den Hellraumprojektor - völlig andere Bedienung! - ...?

Nun brauche es völlig neues Lernmaterial. Richtig. Als der Fülli durch den Kugelschreiber ersetzt worden war, gehörten wir auch alle zum alten Eisen und mussten umgeschult - nein schlimmer noch: neu ausgebildet! - werden. Nein, Frau Lätzsch*, die Situation ist nicht schwieriger als in der Mathematik (neues Lehrmittel, neue Didaktik, neuer Lehrplan), im Französisch (neues Lehrmittel, neue Didaktik, neuer Lehrplan) oder im... Überall gibt es immer wieder neue didaktische Konzepte, altes, das nicht mehr klappt, das angepasst und ersetzt werden muss. Von Klassenzug zu Klassenzug, von Jahr zu Jahr, von Lektion zu Lektion.

Beim Verband Swiss ICT heisst es gar: «Zwar sind die Schüler ihren Lehrern weit voraus. Manch ein Achtjähriger kennt sich bei der Anwendung neuer Technologien besser aus als ihre Lehrer.» Aber: Die ältere Generation könne den Jungen trotzdem viel beibringen. «Gerade beim bewussten Umgang und Verständnis der Technologie können die Jungen viel lernen.» Immerhin. Meine Erfahrung ist - zumindest an der Primarschule (und auf die Bezug sich der kommentierte Zeitungsartikel) - ist da etwas ernüchternder: Schüler kennen sich in den allermeisten Fällen nicht besser aus als ihre Lehrer. Klar kennen sie die aktuellsten Spiele und You-Tube-Videos, aber alles, was darüber hinausgehe, überfordert viele. Kinder wissen teilweise nicht einmal, was ein Tabulator ist.

Hinweis: Nächste Woche noch ein passendes Video aus dem Spätmittelalter, als in den Klöstern neue Medien einzug hielten...

*Präsidentin des Zürcher Lehrerverbandes

Montag, 22. Mai 2017

Das riesen Chrüsimüsi im Kopf in der Mathematik muss nicht sein

In der Mittagspause drückte mir ein Kollege eine Postkarte in die Hand, eine Bekannte von ihm hätte ein Lehrmittel geschrieben. Neugierig schaute ich mir die angegebene Internetseite an. Kurz: Es geht ums rechnen, weil rund 7% aller Schulkinder in der Primarschule rechenschwach sind. Bemerkbar wird dies meist etwa in der dritten Klasse.


Die Bekannte meines Kollegen hat nun ein Arbeitsheft mit einem Koffer voller Lernmaterialien entwickelt, welche insbesondere das dezimale Verständnis in den Zahlenräumen 100 und 1000 fördert. Dabei setzt sie auf alle Abstraktionsebenen. Den Fokus setzt sie jedoch aufs Handeln. Selbst Heilpädagogin, hat sie auch Kinder mit grossen Schwierigkeiten im Auge gehabt. Trotzdem lässt es sich sowohl in Regelklassen als auch in Sonderklassen parallel zum "normalen" Lehrmittel einsetzen. Gut zu Wissen: "Gib mir 10" berücksichtigt die neusten Erkenntnisse der Hirnforschung und verwendet die Farben, die schon Maria Montessori im Rechenunterricht verwendet hat. Eingeflossen sind auch sieben Jahre Erfahrung auf dem Gebiet.

Zu kaufen gibt es "Gib mir 20" noch nicht. Wenn alles gut läuft, wird es im kommenden Monat - also gerade richtig um Hinblick auf das neue Schuljahr - erscheinen. Dazu ist noch ein bisschen Geld nötig. In einer Crowdfunding-Aktion hofft die Autorin, das nötige Geld zusammenzubringen. Wer etwas spendet bekommt eine attraktive Gegenleistung, hin bis zu einer Weiterbildung für das ganze Lehrerkollegium zum Thema rechenschwache Kinder und deren Förderung.

Mehr zum Lehrmittel auf gibmir10.ch
Mehr zur Spendenaktion auf https://wemakeit.com/projects/gib-mir-10


Anmerkungen für Leser aus Deutschland und Österreich:
* Chrüsimüsi: Zürichdeutsch für Durcheinander
* Frau Hofmann spricht im Video die deutsche Standardsprache mit leichtem helvetischen Akzent. Schweizerdeutsch wäre etwas anderes ;-)

Montag, 15. Mai 2017

Microsoft will die Gamifizierung der Schule

Die Schweiz müsse die Menschen in die digitale Welt integrieren, damit sie nicht zu einem Land der  Verlierer werde, sagte Wirtschaftsminister Schneider-Ammann. In einer auflagenstarken Zeitung konnt man dann prompt einigen Unsinn zum Thema lesen.

So wird ein Mitarbeiter eines grossen amerikanischen Softwareherstellers zitiert, einige Schulen hätten sich zwar Tablets angeschafft, doch es fehlte ein Anwendungskonzept. Meines Wissens sind in unserem Kanton alle Schulen mit tragbaren und anderen Computern ausgerüstet. Wir Lehrer bräuchten Unterstützung, um die digitale Schule methodisch umzusetzen. Danke, liebe Firma Micro..., das machen viele, sehr viele Lehrer schon seit zehn oder fünfzehn Jahren. Es war noch im letzten Jahrtausend/Jahrhundert, als ich ein Anwendungskonzept schrieb und mit grosszügiger Unterstützung der Schulpflege umsetzte. Wobei die Umsetzung vor allem im Kollegium stattfand durch regelmässige Anstösse, Ideen, Beratung, Hilfestellung, kurz: wie setze ich die teuren Geräte ein.


Natürlich kann simples Programmieren, etwa mittels des Computerspiels ‹Minecraft›, auch jungen Schüler zugetraut werden, doch gibt es andere Ansätze, welche die Kinder viel mehr fördern und vor allem auch tiefer gehen. Ich denke dabei etwa an den Informatikbiber, Livecode, Primalogo, BeeBot, Scratch oder Logo.

Montag, 8. Mai 2017

Beziehung statt Erziehung

Als Ergänzung zum Beitrag zur Vertrauenspädagogik vom vergangenen Montag, heute ein Gespräch mit Jesper Juul. Er vertritt den Ansatz: Erziehung ist kein Leistungssport, Kinder wollen Beziehung statt Erziehung.


Das Gespräch mit Jesper Juul führte Teresa Arrieta im Dezember 2013.

Bücher zum weiterlesen:



Montag, 1. Mai 2017

Machtkämpfe ade: Mit Vertrauen erziehen

Kinder gehorchen, weil sie ihre Eltern oder Lehrer mögen und die Hierarchie kennen. Dies besagt die Vertrauenspädagogik. Ihr Begründer,  Heinz Etter, Heilpädagoge, Vater und ehemaliger Leiter eines Sonderschulheims, ist überzeugt, dass es möglich ist, aus dem Kreislauf von Machtkämpfen und Misstrauen auszusteigen.



In diesem Gespräch zeigt Hans Etter, dass Verhalten weniger eine Sache des Charakters, sondern vielmehr der Beziehung ist. Kinder sind so geschaffen, dass sie sich einer fürsorglichen Vertrauensperson gerne anschliessen, solange sie sich angenommen, geachtet und geliebt fühlen. Das Verhalten von Kindern wird nicht von Anreizen bestimmt, sondern folgt der Beziehung. Was das konkret heisst, erklärt Heinz Etter in diesem Film.

Am 6. September 2017 gibt es einen Erfahrungsaustausch für Lehrer mit Heinz Etter über Skype. Das Angebot ist gratis, es jedoch eine Anmeldung nötig.

Literatur: Heinz Etter: Erziehen im Vertrauen: Das Join-up-Konzept.