Montag, 21. September 2015

Wie man Bildungsnotstand überwinden kann

Der nigerianische Autor und Nobelpreisträger Wole Soyinka geisselt Boko Haram. Er verbindet seinen Bericht über die bedrohten Bildungsinstitutionen in seiner Heimat an der jährlichen Tagung der Nobelpreisträger in Lindau mit einem leidenschaftlichen Plädoyer zur Verteidigung menschlicher Grundwerte. Fünfter und letzter Teil.

Ich verkünde nichts Neues, wenn ich festhalte, dass dieser Krieg (siehe Teil vier) mit Bombardements und Militäreinsätzen allein nicht zu gewinnen ist – auch nicht mit den präzisesten Lenkwaffen, denn für jeden Kopf, den man der Hydra abschlägt, wachsen zehn neue nach. Das erste Ziel, dem unsere Anstrengungen gelten müssen, ist das Denken der Menschen, und da sehe ich nicht, dass nach konstruktiven und phantasievollen Optionen gesucht würde. Da Bücher das primäre Hassobjekt der Jihadisten sind, schlage ich vor, dass man die von ihnen besetzten Regionen ausgiebig bombardiert – und zwar mit Büchern, einschliesslich des Korans in kommentierten und annotierten Ausgaben. Oder mit Bildern der gütigen, versöhnlichen Gottheiten und Leitgestalten, die dem blutrünstigen Gottesbild der Islamisten Paroli bieten könnten. Und es gibt hunderterlei andere Ansätze: Die Waffe des Lachens, den Pikser, der den aufgeblasenen Gotteskriegern die Luft rauslässt; Cartoons, die diesen morbiden, todessüchtigen Narzissten den Spiegel vorhalten. Zerpflücken wir doch die Photoshop-Posen, in denen sie sich präsentieren, bevor sie ausziehen, um den Begriff «Märtyrer» mit ihrem Tun zu besudeln! All das sind legitime Waffen, um den Feind zu demoralisieren und den Opfern ein Stück Macht zurückzugeben. Den Opfern, die – in Somalia, in Mali und im Nordosten Nigerias weiss man es sehr wohl – die wahren Märtyrer sind, diejenigen, die ihre Überzeugung und ihren Widerstandsgeist nicht preisgegeben haben.

Die Frage, die wir uns heute stellen müssen, lautet: Ist es genug, wenn unsere Jugend nicht mehr lernt als das nackte Überleben? Reicht das für unsere Kinder? Sollten wir Geistes- und Naturwissenschaften, Technologie und Künste schlicht aus unserem Repertoire streichen, die alten Bibliotheken von Timbuktu vergessen und Akademien eröffnen, die allein der Selbsterhaltung dienen? Sollen wir zulassen, dass wir zu Feinden Gottes erklärt werden, wenn wir unser Recht auf Bildung einfordern? Mir scheint, es ist Zeit, dass wir aufhören, den Vernichtungsfeldzug der Jihadisten gegen Bildung und Kultur lediglich mit Händeringen zu quittieren: Wir sollten ihn, kollektiv und mit aller Klarheit und Schärfe, zu einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit erklären.

Denn die Verteidigung der Menschlichkeit bedeutet mehr als den Schutz von Leib und Leben. Menschlichkeit verkörpert sich in den Buddhas von Bamian, welche die unter dem Namen Taliban operierenden Neo-Barbaren unter Freudengeheul in die Luft jagten. Menschlichkeit manifestierte sich in der antiken Stadt Nimrud, deren ehrwürdige Überreste von IS-Milizionären geschleift wurden. Sie birgt sich in den Manuskriptschätzen von Timbuktu, die in einer gewagten Aktion dem Zugriff der Islamisten entrissen wurden. Sie trägt die Züge der Bronzeskulpturen aus dem Königreich Benin und jene der klassischen Yoruba-Büsten. All diese Figuren, Bauten und Objekte säumen die Strasse, auf der die Menschheit voranschritt bis zur Erkundung ferner Galaxien, und es obliegt ihnen, auch über unsere Zukunft zu wachen. Ohne sie sind wir verstümmelt, unvollkommen. Und wir dürfen keine Ideologien dulden, die sich nur mithilfe eines verstümmelten, unvollkommenen Menschenbilds verwirklichen können.

Wole Soyinka, Dramatiker, Romancier, Dichter und Essayist, wurde 1934 in Abeokuta geboren. Für seine Stellungnahmen gegen politische Missstände in Nigeria nahm er auch Gefängnishaft und Exil auf sich. 1986 wurde sein Schaffen mit dem Literaturnobelpreis gewürdigt. Seine an der 65. Lindauer Nobelpreisträger-Tagung gehaltene Rede erscheint hier in leicht gekürzter Fassung. Aus dem Englischen übersetzt von as.


Montag, 14. September 2015

Der Traum von Utopia

Der nigerianische Autor und Nobelpreisträger Wole Soyinka geisselt Boko Haram. Er verbindet seinen Bericht über die bedrohten Bildungsinstitutionen in seiner Heimat an der jährlichen Tagung der Nobelpreisträger in Lindau mit einem leidenschaftlichen Plädoyer zur Verteidigung menschlicher Grundwerte. Vierter Teil.

Diese Funktion (Normen in Frage zu stellen, siehe dritter Teil) können alle Glaubensbekenntnisse, alle Ideologien erfüllen. Auch der Marxismus war zu seiner Zeit ein Glaube, der es dem unruhigen Geist der Jugend erlaubte, das Bestehende in Bausch und Bogen und ohne kritische Differenzierung von sich zu weisen. Man glaubte, das kapitalistisch-liberale Gesellschaftssystem als eigentlichen Abgrund der Dekadenz, der intellektuellen Disziplinlosigkeit und der Verdammnis zu erkennen, und sonnte sich stattdessen in der utopischen Vision einer klassenlosen Gesellschaft. Sogar hoch gebildete, scharfsinnige Köpfe gerieten in den Bann dieser Utopie und glaubten sich berufen, das Paradies auf Erden zu schaffen; manche zimmerten sich tatsächlich entsprechende Nischen zurecht, von denen aus sie mitleidig und überheblich auf den «unerleuchteten» Rest der Welt und deren unselige Bewohner herunterblickten. Und es gab auch einige, die sich mit Leib und Seele dem Dienst an ihrer Vision verschrieben und gewalttätige Missionen unternahmen – im Glauben, dass nur die Zerstörung des Gegenwärtigen den schimmernden Horizont der Zukunft freimachen könne.

Die zuvor verwendeten Begriffe – «Paradies», «Mission» – sind nicht zufällig gewählt. Die emotionale Leidenschaft des «fundamentalistischen» Marxismus war dem, was uns heute in Gestalt einer morbiden religiösen Ideologie gegenübersteht, durchaus vergleichbar, lediglich die Denkformen waren anders. Beide Richtungen aber kennen einen Ausdruck sehr wohl: Ermächtigung – das Überlegenheitsgefühl, welches damit einhergeht, dass man zu den Erwählten gehört. So wurde seinerzeit sogar das Ziel der klassenlosen Gesellschaft zum Königsweg, den nur die Elite der «cognoscenti» beschritt.

Wenn sich der rebellische Geist der Jugend mit der geistigen Prägung der Medresse verbindet, sind zerstörerische Energien leicht zu mobilisieren. Der Traum von Utopia rechtfertigt alle Greuel – oder zumindest lassen diese sich im Namen vermeintlicher «Notwendigkeit» plausibel machen. Wenn man nun einer Enklave des Terrors den Namen «Staat» zugesteht, einzig weil sie sich selbst mit diesem schmückt, dann ist das letztlich ein Einknicken vor dem Gegner. Denn in diesem «Staat» finden rastlose, unzufriedene Jugendliche ein real existierendes Ziel, das sie ansteuern, ein alternatives Bürgerrecht, das sie einfordern können; sie können ihre Vergangenheit und Gegenwart wegwerfen wie einen dreckigen Lumpen, um stattdessen die Standarte des Kriegers zu ergreifen. Sie sind Bürger einer neuen «Weltordnung», die alles andere als eine solche ist: eines Staates, in dem das Ausleben der niedrigsten Instinkte ein Bürgerrecht ist, welches den Kämpfern Allahs zusteht.

Stellen Sie sich vor, dass einer dieser frustrierten, nach Ermächtigung hungernden Jugendlichen auf allen Medienkanälen hört, dass der sogenannte «Islamische Staat» wieder einmal einen Mitarbeiter einer Hilfsorganisation ermordet – Verzeihung: «exekutiert» – hat. Er wird mit Genugtuung zur Kenntnis nehmen, dass sein Staat das jedem Staat zustehende Recht ausgeübt hat, einen Feind zu exekutieren. Der nüchterne Blick, der einfach konstatiert, dass ein paar Geistesgestörte gerade einen unschuldigen Menschen abgeschlachtet haben, ist ausgeblendet; in den Augen des Jugendlichen hat seine Nation sich auf legitime Art eines Verräters, eines Infiltranten, eines Schuldigen entledigt; sie hat im Angesicht der Welt ihr Recht auf Selbstschutz und ihre Souveränität manifestiert. Natürlich lässt sich die Wirkung solcher Gedankengänge nicht genau quantifizieren, aber ihr Risikopotenzial sollte nicht ausser Acht gelassen werden.

Die Anerkennung, die dem «Islamischen Staat» quasi gedankenlos gezollt wird, haben die Nigerianer den einheimischen Terroristen verweigert. Nein, ihr seid weder ein Staat noch ein Kalifat. Ihr seid Aufklärungsverweigerer, die es sich zur ersten Pflicht gemacht haben, alles zu zerstören, was mit Wissen und Kreativität zu tun hat, all das, wofür Bücher stehen. Boko Haram. Nennt euch, wie ihr wollt, eure nigerianischen Landsleute haben keinen andern Namen für euch als Boko Haram. Leider sind wir den Terror damit noch bei weitem nicht losgeworden, aber der Kampfgeist hat in der restlichen Bevölkerung Wurzeln geschlagen, und das ist ein nicht zu unterschätzender Faktor.


aus dem Englischen übersetzt von as.


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Nicht vergessen: Diesen Mittwoch Weiterbildung zu Klassengrat und Demokratie

Montag, 7. September 2015

Unbedachtes Plappern

Der nigerianische Autor und Nobelpreisträger Wole Soyinka geisselt Boko Haram. Er verbindet seinen Bericht über die bedrohten Bildungsinstitutionen in seiner Heimat an der jährlichen Tagung der Nobelpreisträger in Lindau mit einem leidenschaftlichen Plädoyer zur Verteidigung menschlicher Grundwerte. Dritter Teil.


Fragen wir noch einmal: Was sagt uns der Name Boko Haram? (siehe zweiter Teil)

Es ist, zunächst, nicht der Name, den unsere religiösen Fanatiker gewählt haben: Sie selbst nennen sich grossspurig «Jama'atu Ahli as-Sunna li ad-da'awati wal jihad», zu Deutsch etwa: Gefolgsleute der Lehren des Propheten und des Jihad. Auch wenn die Nigerianer auf die jähe und brutale Attacke dieser Gruppierung weder vorbereitet noch dafür gerüstet waren, griffen sie instinktiv nach der psychologischen Waffe der Verweigerung – man verweigert dem Gegner das, wonach er am dringendsten verlangt. So verweigerte man den Jihadisten sogar eine Kurzform des Namens, den sie sich selbst verliehen hatten: Niemand hat sie je als «Gefolgsleute des Propheten» oder «Gotteskrieger» bezeichnet. Nein, «Boko Haram» ist der Name, und er bedeutet: Philister und Ikonoklasten. «Boko Haram»: Mehr bringt ihr nicht zustande. Sprache kann auch eine Kriegswaffe sein.

Diese Lehre könnten die Menschen im heimgesuchten Nigeria dem Rest der Welt mitgeben: Macht keine Konzessionen an den Feind, jedenfalls nicht auf dem Terrain der Sprache, das allen gehört! Und sie liesse sich, beispielsweise, auf den Umgang mit dem IS übertragen. Denn der Islamische Staat ist kein Staat – und er ist nicht islamisch. Oder macht etwa die Tatsache, dass ein paar Psychopathen sich auf einem Stück Grund und Boden breitmachen, diesen Boden bereits zum Staat?

Angesichts dieser Feststellungen muss es erstaunen, dass führende Zeitungen wie die «New York Times» oder «Le Monde» in ihrer Berichterstattung den Begriff «Islamischer Staat» und damit die Selbstglorifizierung brutalisierter Spinner fraglos übernehmen. Denn die scheinbar unbedeutende Konzession hat durchaus psychologische Implikationen. Die Jugend, wir wissen es, ist die Zeit der Rebellion, die Zeit, da das Individuum fast instinktiv den Status quo ablehnt. Die Ironie dieses Reflexes besteht darin, dass er lediglich das Vorspiel zu einer neuen Bindung darstellt; denn erst die Bindung an etwas anderes schafft die Grundlage, von der aus man das Bestehende verwerfen kann. Sie ermächtigt den Aussteiger, dieses Andere als bedeutsamer und wertvoller darzustellen – als eine Alternative, welche die geltenden Normen insgesamt infrage stellt und disqualifiziert.

aus dem Englischen übersetzt von as.