«Das ist Finnisch und bedeutet një, dy, trë auf Albanisch», erklärte er mir. «Wo hast du denn das gelernt?» – «Im Französischunterricht.» – «Ach so. Und kannst du die Zahlen von 1 bis 20 auch auf Französisch?» – «Nein, nur bis 10, aber das ist nicht so wichtig, hat der Lehrer gesagt.»
Nun, wir gehören zu den Eltern, die sich zwar regelmässig erkundigen, wie es unseren Kindern in der Schule so läuft. Solange sie mit ihren Kameraden, den Lehrpersonen und den Hausaufgaben klar kommen und die Noten stimmen, halten wir uns bewusst im Hintergrund. Diese Zählerei machte mich aber dann doch ‹gwunderig›. Ich beschloss, dass Alex Capus' neuer Roman «Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer» an jenem Abend warten musste. An seine Stelle trat «Mille feuilles», zu deutsch «Crèmeschnitte», das neue Franzi-Lehrmittel für die Primarstufe.
Pierrot et Pierrette |
über ein physikalisches Experiment, das aufzeigen soll, warum sich eine Papierblume im Wasser sanft öffnet: «Parce que l’eau pénètre par capillarité dans les petits espaces vides des fi bres du papier
et le gonfl e, alors les coins de papier pliés se détendent et s’ouvrent comme les pétales d’une fleur.»
Ich las die Erklärung ein zweites Mal und fragte mich unweigerlich, ob das ein Fünftklässler tatsächlich versteht. Vor allem aber fragte ich mich, bei welcher Gelegenheit er in den nächsten Jahren wohl erklären muss, warum Schallwellen im Wasser eine grössere Reichweite haben und warum ein Daumen über deutlich mehr Nerven verfügt und deshalb sensibler als ein Arm ist.
Über Inhalte lässt sich streiten, dachte ich leicht irritiert und blätterte weiter – in der Hoffnung, ein paar Themen zu finden, die man in alltäglichen Situationen gut gebrauchen kann. Ergebnis: Fehlanzeige. Auf x Seiten verteilt fanden sich in orangen, blauen und grünen Kästchen gut gemeinte Anweisungen, die den Lernenden helfen sollen, möglichst grosse Fortschritte zu machen. «Ich kann mein Auftreten beeinfl ussen, wenn ich im Voraus überlege, worauf ich besonders achten muss», stand da. Und weiter: «Komplexe Erklärungen kann ich auch auf Deutsch geben.» – «Ich kann Schreibgrenzen überwinden.» – «Ich bin stolz, wenn mir etwas gelingt.»
Ich schweifte ab und fand mich im Französischunterricht der 1980er Jahre wieder. Pierrot et Pierrette kamen mir in den Sinn, wie sie sich in der allerersten Lektion ausschliesslich auf Französisch unterhielten; die köstlichen Rollenspiele, die wir jeweils mit Begeisterung einstudierten, veränderten und genüsslich zum Besten gaben; die traurige Geschichte von Josette, deren Los es war, zur Zeit der Industrialisierung in einer Fabrik arbeiten zu müssen; und natürlich der 15-jährige Leduc, der mit seinem Götti zum ersten Mal Paris erkundigte.
Ich konnte mich nicht entsinnen, dass wir jemals über das Gelernte nachgedacht und eine Lernspur hinterlassen hätten. Und trotzdem konnten die meisten von uns dem konsequent auf Französisch erteilten Unterricht folgen. Wir unterhielten uns über die Geschichten von Maupassant und überlegten uns, ob wir wohl auch wie «la mère sauvage» gehandelt hätten, schauten ‹TSR la Première› und debattierten im Klassenunterricht über die Argumente der jungen Romands. Und an den Volleyballturnieren in Lausanne und Genf waren wir imstande, uns nach dem Turnier mit den Spielerinnen des gegnerischen Teams zu unterhalten: über das Spiel, über unsere Interessen und unsere letzten Ferien in der Bretagne. Die Englischfans unter uns, denen die französische Sprache schon damals etwas Spanisch vorkam, taten dies auf Englisch und erhielten erfreut Antwort – auf Englisch.
Einigermassen ernüchtert legte ich das Crèmeschnittenbuch beiseite und widmete mich wieder meinem Ingenieurstudenten, dem Pazifi sten Felix Bloch, der entgegen aller friedlicher Vorsätze zum Bombenbauer werden sollte.
Am nächsten Morgen erkundigte ich mich bei meinem Sohn, ob er wisse, warum sich eine Papierblume im Wasser sanft öffnet. «Keine Ahnung», lautete die knappe Antwort. «Aber du hast mir doch erzählt, dass ihr euch kürzlich spannende Experimente vorgestellt habt.» – «Ach die, ja klar.» – «Hast du denn gewusst, was du da erzählst?» – «Nein, und die anderen auch nicht, aber das ist ja nicht so wichtig, hat der ...» – «... Lehrer gesagt.» – «Weisst du, mit diesem Buch kann man gar nicht Französisch lernen.» – «Doch, doch, das geht schon. Es ist halt einfach anders als vor 30 Jahren. Nach der Schule wirst du eh noch einen Aufenthalt in der Romandie machen. Dann kommt das schon gut.» – «In der Romandie? Dort, wo sie Kuhkämpfe machen?» – «Kuhkämpfe?» – «Ja, schau hier, unser letztes Thema.»
Frustriert schickte ich Tim und Eric in die Schule. Eine Strategie liess mich auf dem Weg zum Büro nicht mehr los: «Ich weiss, wie ein Witz aufgebaut ist. Das hilft mir, einen Witz zu verstehen.»
Soweit ein Bericht aus dem Basellandschäftler Schulblatt. Auch nach 3 Jahren ist das Französischlehrmittel Milles Feuilles höchst umstritten. Nun fühlt sich auch der Lehrmittelverlag Zürich bemüssigt, das beliebte Werk Envol zu ersetzen. Der Bericht zeigt jedoch noch eine zweite Misère: Der Lehrer, dem es nicht passt und dies bei jeder Gelegenheit den Kindern auch sagt. Ein guter, motivierter Lehrer kann auch mit einem schlechten Lehrmittel gut unterrichten.
Doch je mehr Kinder in eine Klasse gestopft werden, je mehr administrativer Kram, je mehr Koordination, je mehr Sitzungen, je mehr Reformen aufgegleist werden, desto mehr werden nur noch Stunden gehalten. Am beliebtesten werden dann Bücher, die man einfach Seite für Seite von vorne nach hinten durcharbeiten kann. Das darf es nicht sein.
Staatspolitisch brauchen wir begeisterte Französischlehrer, denn nur ihnen kann es gelingen, dass in unseren Schulstuben wieder lieber eine zweite Landessprache gelernt wird.
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