Montag, 1. März 2021

Präsenzunterricht an Primarschulen darf nicht verboten werden

Foto: Ennio Leanza / NZZ
Präsenzunterricht an Primarschulen darf nicht verboten werden. Diese klare Aussage machte Anfang Februar Prof. Andreas Glaser, der an der Universität Zürich Staats-, Verwaltungs- und Europarecht lehrt.

Glaser schreibt: "Das im März 2020 von der Regierung angeordnete und nach der Aufhebung im April 2020 von vielen Seiten wiederholt geforderte Verbot von Präsenzunterricht an sämtlichen Schulen ist verfassungswidrig. Es verstösst gegen den grundrechtlichen Anspruch jedes Kindes auf ausreichenden und unentgeltlichen Grundschulunterricht (Art. 19 BV). Denn ein solches Verbot erfasst flächendeckend gesamtschweizerisch den Unterricht der obligatorischen Schule auf der Primarstufe und der Sekundarstufe I. 

Anspruch auf Primarschulunterricht

Der von den Lehrpersonen häufig mithilfe elektronischer Informationstechnik unterstützte Fernunterricht der Kinder an deren privatem Aufenthaltsort ist nicht ausreichend im Sinne der Verfassungsbestimmung. Wie das Bundesgericht in ständiger Rechtsprechung urteilt, muss der Grundschulunterricht «die Schüler sachgerecht auf ein selbstverantwortliches Leben im modernen Alltag vorbereiten». Mit Blick auf den vor der Pandemie noch verbrämten Fernunterricht hielt das Bundesgericht fest, dass ein ausreichender Primarschulunterricht nicht nur schulisches Wissen vermitteln, sondern entwicklungsspezifisch auch die Fähigkeit zum Zusammenleben in der Gesellschaft fördern muss. 

Der Anspruch auf Primarschulunterricht wird daher verletzt, wenn dem Kind nicht die Fähigkeiten vermittelt werden, die ihm erlauben, an der Gesellschaft und am demokratischen Gemeinwesen teilzuhaben. Ausserdem dient der obligatorische Schulbesuch laut Bundesgericht der Wahrung der Chancengleichheit aller Kinder und fördert die Integration. Durch Fernunterricht kann jedoch gerade die Integration der Kinder geschmälert werden. Verschiedene neue Studien vonseiten der Erziehungswissenschaft im Zusammenhang mit dem Fernunterricht während der Pandemie bestätigen diesen Befund. Fernunterricht für bestimmte Klassen oder auch Schulhäuser während des begrenzten Zeitraums einer Quarantäne lässt sich im öffentlichen Interesse der Pandemiebekämpfung rechtfertigen. Auch Massnahmen, die im Vergleich zu Fernunterricht milder sind, wie die Aussetzung des Schwimmunterrichts oder die Pflicht zum Maskentragen, lassen sich bei hinreichend belegter Gefahr und Wirksamkeit der Massnahmen unter Umständen rechtfertigen. Das Verbot von Präsenzunterricht auf dem gesamten Kantonsgebiet oder gar schweizweit erweist sich dagegen in jedem Fall als nicht erforderliche Einschränkung des Anspruchs auf Primarschulunterricht. 

Arsenal der Epidemiologie 

Dies gilt umso mehr, als Kinder und Jugendliche gemäss Verfassung Anspruch auf besonderen Schutz ihrer Unversehrtheit und auf Förderung ihrer Entwicklung haben. Solange andere Massnahmen, die im Arsenal der Epidemiologie noch vorgeschlagen werden, nicht ergriffen wurden, beispielsweise die Schliessung von Skigebieten oder die Testpflicht bei der Einreise in die Schweiz, verbietet sich die Einschränkung des verfassungsrechtlich geschützten Präsenzunterrichts in der obligatorischen Schule ohnehin. Landesregierung und Kantonsregierungen setzen den Anspruch auf unentgeltlichen Primarschulunterricht in der zweiten Welle der Covid-19-Pandemie bis jetzt zwar konsequent durch, massgebliche Gründe wurden bisher aber nicht genannt. Sollte die Forderung nach Schulschliessungen lauter werden, können sich Bundesrat und Kantonsregierungen in ihrer Entgegnung ausdrücklich auf die Verfassung berufen: Art. 19 der Bundesverfassung verbietet die kantons- oder schweizweite Umstellung auf Fernunterricht in der Primarschule und auf der Sekundarstufe I."

Andreas Glaser ist Professor für Staats-, Verwaltungs- und Europarecht an der Universität Zürich und Direktoriumsmitglied des Zentrums für Demokratie Aarau (ZDA).

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen